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Praktische Implikation der Forschung
Fazit (16.04.2020)
Förderjahr 2019 / Stipendien Call #14 / ProjektID: 4465 / Projekt: Strategien in der Plattformökonomie

Die Untersuchung zeigt eine Branche im Wandel. Viele der qualitativ untersuchten Anbieter im Bekleidungshandel sehen sich unter Anpassungsdruck. Auch die quantitative Analyse der Marktdaten offenbart eine Branche mit stagnierenden Umsätzen. Dieses angespannte Marktumfeld führen die Interviewpartner auf ein sich veränderndes Kundeverhalten und einen zunehmenden Wettbewerbsdruck durch internationale Konkurrenz zurück. Daneben wird immer noch der Onlinehandel als weitreichendste Branchenveränderung wahrgenommen.
Eine Reaktion auf diese Veränderung ist die Optimierung und Digitalisierung aller Vertriebswege. Insbesondere nicht-digitale Kanäle sind in den vergangenen Jahrzehnten in ihrer technischen Funktionsweise weitestgehend unverändert geblieben und müssen nun unter dem gestiegenen Wettbewerbsdruck aufholen. Der besser informierte Kunde, der online ein umfassendes Produktangebot und schnelle Suchergebnisse gewöhnt ist, stellt hohe Performanceerwartungen an diese Vertriebswege. Trotz einer gewissen Verlagerung der Umsätze in digitale Kanäle zeigt die qualitative Untersuchung deutlich, dass nach Auffassung der Entscheidungsträger des deutschen Bekleidungshandels nicht-digitale Kanäle in Zukunft auch weiterhin zum wesentlichen Vertriebsmix gehören werden.
Dennoch stellt der Onlinehandel die am stärksten wachsende Komponente des Branchenvertriebsmix dar. Die Mehrzahl der quantitativ untersuchten Unternehmen betreiben ihn in Form von Multi-Channel. Auch in den Interviews zeigt sich die Relevanz der Marktbearbeitung über unterschiedliche Vertriebswege. Jedoch stellt vor allem die Kostenintensivität der notwenigen Reichweite ein zentrales Problem des Onlinegeschäftes dar. Zahlreiche untersuchte Marktteilnehmer sehen im Plattformvertrieb die Chance am Onlinehandel zu partizipieren, ohne dabei die hohen Investitionskosten tragen zu müssen. Andere erkaufen sich durch die Kooperation mit einer Plattform zusätzliche Reichweite, um für den Kunden maximal erreichbar zu sein. Auf der anderen Seite können die Plattformen dadurch die hohen Investitionen mit anderen Akteuren teilen und das Geschäftsmodell durch Größenvorteile optimieren.
Diesen zentralen Chancen stehen Risiken gegenüber, welche von Plattformen ausgehen. Die Plattformökonomie wird von etlichen befragten Akteuren als Teil der weitreichenden Marktveränderung des Onlinehandels gesehen und kritisch bewertet. Denn Marktveränderungen bedürfen Organisationsveränderungen und stellen die Unternehmen damit vor wesentliche Herausforderungen. Die Plattformökonomie kann jedoch auch Herausforderung und mögliche Lösung zugleich sein. Entscheidend ist, in welcher Situation sich das betroffene Unternehmen befindet. Festgemacht werden kann dies am jeweiligen Geschäftsmodell. Während für einige untersuchte Unternehmen eine Kooperation mit Plattformen in der Form des Plattformvertriebs sinnvoll erscheint, würde dies für andere die Vernichtung zentraler Wettbewerbsvorteile bedeuten und somit geschäftszerstörend sein. Während die Öffnung des eigenen Vertriebsnetzes für Mitbewerber für manche untersuchte Unternehmen die Chance auf eine starke Umsatzsteigerung darstellt, würden andere am finanziellen Aufwand und der zusätzlichen Konkurrenz scheitern. Für wen Plattformvertrieb oder Agenturhandel letztendlich sinnvoll ist, hängt von einer Vielzahl an Faktoren und deren Wechselwirkungen ab. Einige Wirkungsweisen werden in der vorliegenden Arbeit dargestellt.
Die vorhergegangene Untersuchung reduziert dazu die Komplexität schrittweise und weist diverse Ergebnisebenen auf. So wird die Praxis in den Stand versetzt, abhängig vom jeweiligen Erkenntnissinteresse, die passende Abstraktionsebene und Betrachtungsperspektive wählen und die Erkenntnisse mit der eigenen Geschäftsmodellrealität abgleichen zu können. Die Quintessenz der praktischen Implikation soll dennoch gesondert dargestellt werden. Sie mündet in zwei Checklisten, mit welchen sich die Passung zwischen den wesentlichen Geschäftsmodelleigenschaften und Plattformvertrieb respektive Agenturhandel abgleichen lassen.

Abgeleitet aus den untersuchten Merkmalen von Geschäftsmodellen stellen sich in der Checkliste des Plattformvertriebs jene Faktoren dar, welche für einen Plattformvertrieb begünstigend wirken können. Auch wenn die Richtung nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist, kann in jedem Fall eine Passung ausgemacht werden. Zur Konkretisierung sind diese als Fragen formuliert. Es muss nicht jeder Punkt erfüllt sein, damit Plattformvertrieb zum Geschäftsmodell eines Unternehmens passt, jedoch gibt die Anzahl der passenden Merkmale Hinweis auf den Grad der Vereinbarkeit von Geschäftsmodell und Plattformvertrieb.
Kleine spezialisierte Produzenten stellen das privilegierte role model für plattformvertreibende Marktteilnehmer dar. Für sie überwiegen die Vorteile des Marktzugangs und der Reichweite gegenüber den Nachteilen des Verlusts von Kundenkontakt und Wettbewerbsvorteilen. Für sie empfiehlt sich zumindest in der kurzen Frist eine Kalkulation, die lautet: Wenn, gemessen am Umsatz, die Plattformgebühren niedriger sind als die Marketingkosten des Eigenvertriebs, ist der Plattformvertrieb sinnvoll. Wie sinnvoll auf der anderen Seite Agenturhandel ist, lässt sich ebenfalls anhand einer Checkliste vereinfacht darstellen.

Analog zum Plattformvertrieb lassen sich auch für den Agenturhandel praktische Faktoren herausstellen, welche für eine Passung des Unternehmens mit Agenturhandel sprechen. Auch hier ist die Richtung ungewiss. Es fällt auf, dass weniger Merkmale für den Agenturhandel sprechen. Da die Ergebnisse der quantitativen Untersuchung zeigen, dass nur eine geringe Zahl an Marktteilnehmern Agenturhandel betreibt, sollten alle sechs Merkmale positiv beantwortet werden, um die kostenintensive Entscheidung für Agenturhandel strategisch rechtfertigen zu können.
Als role model für agenturhandelbetreibende Unternehmen wird in der Literatur häufig Amazon genannt. Allerdings sucht das Geschäftsmodell Amazons nicht zuletzt aufgrund der schieren Unternehmensgröße seinesgleichen und weist etliche Besonderheiten auf. Auch zeigt die vorliegende Untersuchung, dass es nicht ausschließlich Amazon vorenthalten ist, Agenturhandel zu betreiben. Ein role model für Agenturhandel stellen allgemein distanzhandelerfahrene, große Handelsunternehmen dar, die ein breites Sortiment hinsichtlich der Produkte und der Preisrange anbieten. Außer dem Merkmal des Distanzhandels lassen sich die übrigen Voraussetzungen mit ausreichend großer Kapitalausstattung schnell aufbauen. Folglich ist Kapital die zentrale Voraussetzung für Agenturhandel.
Große Marktteilnehmer, die Agenturhandel betreiben können, sind tendenziell die stärksten Nutznießer der Plattformökonomie. Sie realisieren ab einer kritischen Größe umfassende Skalenvorteile und verdrängen dadurch andere Marktteilnehmer. Doch auch für kleine Unternehmen können Plattformen, durch einen raschen Markteintritt und die einfache Erhöhung der Reichweite, wirtschaftliche Chancen bieten. Die Plattformökonomie wirkt somit monopolbildend und eintrittsbarrieresenkend zugleich. Darin zeigt sich erneut die Ambivalenz dieser Retail Revolution.
Diese Erkenntnis sowie die festgestellten Zusammenhänge der vorliegenden Untersuchung sind der deutschsprachige, praxisbezogene Handels- und Marketingforschung zuzuordnen. Marketing sei dabei verstanden als „(...) funktionsübergreifende Führungsphilosophie mit der besonderen Betonung des Management von Wettbewerbsvorteilen (...)“ (Meffert 2000, 329–330). Die Umsetzung von Wettbewerbsvorteilen im Geschäftsmodell ist Kern der theoretischen und empirischen Ausrichtung der Untersuchung. Beide Bereiche ergänzen sich. Gleichermaßen befindet sich auch das „(...) Marketing als angewandte Disziplin zwischen wissenschaftlichem Anspruch und praxisbezogenen Anforderungen (...)“ (Meffert 2000, 328). Es liegt in der Natur der Sache, dass dabei laufend praktische Herausforderungen aufgegriffen und durch Neukonzeptionen bearbeitet werden. Dieses Vorgehen sieht sich jedoch dem Vorwurf der Theorielosigkeit ausgesetzt (Meffert 2000, 330). Auch die vorliegende Arbeit bedient sich zur Konzeptionierung theoretischen Modellen. Die eigentliche Erklärung der praktischen Herausforderungen geschieht jedoch aus den Erkenntnissen der Praxis und weniger aus denen der Vorerkenntnisse. Daher lässt sich die Frage stellen, ob die Untersuchung aufgrund der praktischen Orientierung der beiden empirischen Studien zu sehr auf der Seite der Praxis und zu wenig auf der der Theorie ist. Auch in der deutschsprachigen Marketingforschung gibt es eine Diskussion zur Diskrepanz zwischen Theorie- und Praxisbezug (Behrens 2000; Meffert 2000; Müller-Hagedorn 2000). Man kann Theorie verstehen, als etwas Regelgeleitetes, Abstraktes, dass damit über die Analyse der Realität hinausgeht. Demgegenüber steht das Verständnis, dass jede wissenschaftliche Ausarbeitung, auch wenn sie sich mit der Praxis beschäftigt, einen Beitrag zu Theoriebildung darstellt (Müller-Hagedorn 2000, 22).
Müller-Hagedorn (2000, 27-35) skizziert in diesem Kontext gängige wissenschaftliche Einteilungen von Aussageformen. Zu diesen gehört die wissenschaftliche Begriffsbildung, wie sie in Kapitel eins bis vier der vorliegenden Arbeit stattfindet. Hinzukommen Erklärung und Prognose. Diese werden in der theoretischen Untersuchung der Kapitel fünf bis neun hergeleitet. Ein weiterer wichtiger Bestandteil ist die Beschreibung der wirtschaftlichen Realität, wie es die empirischen Untersuchungen der Kapitel zehn bis 13 bieten. Daneben ist die Ableitung von Gestaltungsempfehlungen, wie in Kapitel 14 dargestellt, Inhalt wissenschaftlicher Aussagen. Diese Einteilung macht deutlich, dass die vorliegende Untersuchung gerade durch die Beschreibung der wirtschaftlichen Realität und der Ableitung von Gestaltungsempfehlungen seine wissenschaftliche Aussagekraft entfaltet. Auch die Praxis fordert wirtschaftstechnologische Aussagen, welche in der konkreten betrieblichen Realität angewendet werden können. Müller-Hagedorn (2000, 38) fordert daher einen problembezogenen, interdisziplinären Ansatz der Marketingforschung. Theorie und Praxis müssen nicht zwangsläufig als Gegensatz verstanden werden (Behrens 2000, 42). Vielmehr „(...) gehört die Verknüpfung von Theorie und Praxis zum konstitutiven Arbeitsprogramm“ (Behrens 2000, 45). Damit Theorien operationalisierbar und falsifizierbar sein können, sollten sie in konkret beobachtbaren Zusammenhängen auszudrücken sein (Behrens 2000, 42–43). Dennoch muss regelgeleitet vorgegangen werden (Behrens 2000, 50). Schlussendlich sind weder eine zu starke Theorie-, noch eine zu starke Praxisorientierung sinnstiftend (Meffert 2000, 335–337). In diesem Sinn offenbart die vorliegende Untersuchung, wie Veränderungen in der Praxis zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung führen. Es zeigt sich, dass die Plattformökonomie den Handel nachhaltig verändert und ihre Auswirkungen in den Geschäftsmodellen der Marktteilnehmer offenbart.

Behrens, Gerold (2000): Theoriegeleitetes vs. praxisorientiertes Marketing. In: Backhaus, Klaus/Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft (Hrsg.): Deutschsprachige Mar-ketingforschung: Bestandsaufnahme und Perspektiven. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 41–53.
Meffert, Heribert (2000): Marketingdisziplin im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichem An-spruch und praxisbezogenen Anforderungen. In: Backhaus, Klaus/Verband der Hochschul-lehrer für Betriebswirtschaft (Hrsg.): Deutschsprachige Marketingforschung: Bestands-aufnahme und Perspektiven. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 327–338.
Müller-Hagedorn, Lothar (2000): Theorie und Praxis im Marketing. In: Backhaus, Klaus/Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft (Hrsg.): Deutschsprachige Marketingfor-schung: Bestandsaufnahme und Perspektiven. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 21–39.

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