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Algorithmen Erforschen
Überlegungen zur empirischen Forschung (17.10.2023)
Förderjahr 2022 / Stipendien Call #17 / ProjektID: 6194 / Projekt: Algorithmen, AI und widerständige Praktiken

Wer kennt ihn nicht, diesen Moment, in dem man das Smartphone aus der Hand legt und bemerkt, wie viel Zeit eigentlich vergangen ist, seit man es für eine gute Idee gehalten hat, die eigene wertvolle Aufmerksamkeit nur für einen kurzen Augenblick auf den Newsfeed einer beliebigen Social-Media Plattform zu lenken? Viel zu oft verfallen wir scheinbar den diffusen Verlockungen der Algorithmen und nehmen begierig auf, was uns von ihnen auf unsere Bildschirme serviert wird. Und trotz der Alltäglichkeit dieser Situation und ihrem Wiedererkennungswert dürfen wir dabei nicht übersehen, dass, obwohl vielen Menschen vertraut, nur sehr wenige von ihnen über den beschriebenen Einfluss von Algorithmen Bescheid wissen und ihn artikulieren können. Das stellt moderne Gesellschaften nicht nur vor politische Herausforderungen, sondern wirft auch die Frage auf, wie Forschende sich den sozialen Konsequenzen von algorithmischen Anwendungen annähern können, wenn Personen aufgrund von mangelndem Vokabular oder Fachwissen nicht dazu in der Lage sin, Auskunft über sie zu geben?

Algorithmen erforschen?

Wie aber können algorithmische Einflüsse dann erforscht werden? Das zunehmende Interesse an Algorithmen und ihren Auswirkungen hat in den letzten Jahren gezeigt, dass es zahlreiche Möglichkeiten gibt, sie für die empirische Forschung zu konzeptualisieren um sie in Umfragen und Fragebögen zu berücksichtigen:

„Algorithm Awareness“

Studien zur „Algorithm Awareness“, d. h. dem Bewusstsein dafür, das Inhalte moderiert, Informationen kuratiert und Entscheidungen automatisiert werden, zeigen, dass das Wissen der Menschen über und um Algorithmen ungleich verteilt ist, wodurch Ausgrenzungen reproduziert und bestehende digitale Klüfte verstärkt werden. Es ist durch diese Umfragen bekannt, dass das Bewusstsein und das Verständnis von Algorithmen das Nutzungsverhalten beeinflussen, wobei der Begriff des "Algorithmus" den meisten Menschen nicht bekannt ist, nicht verstanden oder unscharf verwendet wird.

„Algorithm Literacy“

Definiert als "sich der Verwendung von Algorithmen in Online-Anwendungen, -Plattformen und -Diensten bewusst zu sein und zu wissen, wie Algorithmen funktionieren", beschreibt die „Algorithm Literacy“ ein Zusammenspiel aus kognitiven (Bewusstsein/Wissen und die kritische Bewertung von Algorithmen) und Verhaltensdimensionen (Bewältigungsverhalten und Fähigkeiten zur Gestaltung). Während "Awareness" als Bewusstsein für die Präsenz von Algorithmen lediglich die Wahrnehmung algorithmischer Selektionsprozesse erfasst, erweitert das Konzept der „literacy“ diesen Begriff um Hintergrundwissen über das Innenleben algorithmischer "Black Boxes". Studien mit diesem Fokus kommen zu dem Schluss, dass "algorithmische Fähigkeiten" ein wichtiges Gut für die informierte Nutzung algorithmischer Anwendungen sind, jedoch die Domäne einiger weniger Nutzer mit spezifischem Fachwissen bleiben.

„Algorithm Imaginaries“

Die Untersuchung der Gefühle, die Algorithmen bei Menschen auslösen, die Art und Weise, wie Nutzerinnen und Nutzer wissen und wahrnehmen, dass Algorithmen Teil ihres "Medienlebens" sind und die daraus resultierenden Denkweisen über sie werden als "algorithmische Imaginationen" untersucht. Eine solche Imagination geht über das mentale Modell von Algorithmen hinaus, beinhaltet eine affektive Dimension und kann als produktiv verstanden werden, da bestimmte Imaginationen algorithmischen Funktionierens entsprechende Nutzungsszenarien und Handlungsmöglichkeiten innerhalb algorithmischer Regime ermöglichen.

„Folk Theories“

Eng verwandt mit Imaginationen sind „Folk Theories“ von und über Algorithmen als intuitive, informelle Theorien, die Individuen entwickeln, um die Ergebnisse, Wirkungen oder Konsequenzen technologischer Systeme zu erklären, die Reaktionen auf und das Verhalten gegenüber diesen Systemen leiten und daher eine Möglichkeit für Menschen darstellen, Algorithmen und ihr Verhalten zu verstehen. Indem sie die in Imaginationen enthaltene Wahrnehmungen von Algorithmen um affektive Beziehungen erweitern, z.B. wie es sich "anfühlt", mit ihnen zu interagieren, erscheinen „Folk Theories“ als Rationalisierungen algorithmischer Handlungen in Form von spekulativen, aber nachvollziehbaren Erzählungen.

Nach dieser kurzen Darstellung über die verschiedenen Forschungszugänge und -Konzepte bleibt ein anfangs geäußerter Einwand jedoch bestehen: Um Algorithmen in der Praxis zu beforschen wird in den meisten Fällen vorausgesetzt, dass die zu beforschende Person zumindest von der Existenz von Algorithmen (bzw. allgemeiner von bestimmten Funktionen, bspw. Einer automatisierten Selektion von Beiträgen) weiß und dieses Wissen in einem Interviewsetting oder im Rahmen eines Fragebogens auch ausdrücken kann. Wie uns Forschung jedoch auch zeigt ist eben dieses Wissen bei einem signifikanten Teil von Menschen nicht vorhanden, was deren Beforschung anhand von „Imaginationen“ oder „Folk Theories“ verunmöglicht.

Wie ersichtlich wurde, stellt uns die Erforschung von Algorithmen, zumindest aus der Perspektive der Menschen, die mit ihnen interagieren, vor große Schwierigkeiten: Die subtile algorithmische Steuerung und die unterschwellige Manipulation, die gewissenhaft in unseren digitalen Alltag eingewoben sind wirken auf oft ahnungslosen Benutzer:innen ein, die sich bei dem Versuch, diese zu durchschauen, auf die von den Plattformen selbst sorgfältig entworfenen und kurierten „Imaginationen“ über algorithmische Präzision und Unfehlbarkeit verlassen (müssen). Die Erforschung von Algorithmen in der sozialen Praxis bedeutet daher in der Regel über Phänomene zu sprechen, die - sofern sie einer Zielgruppe überhaupt bekannt sind - nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind und die sich durch ihre undurchsichtige Funktionsweise als Infrastrukturen im Verborgenen halten und ihre zugrundeliegenden Agenden aktiv verschleiern.

Algorithmen (ohne Fachwissen) erforschen!

Asl Konsequenz bleibt die gängige Forschungspraxis bei ihrem Versuch, algorithmische Realitäten zu erfassen daher leider viel zu oft in den Sphären von jenen Fachkundigen verhaftet, die nicht nur wissen, was ein „Algorithmus“ ist, sondern dieses Wissen auch artikulieren können. Gleichzeitig ignoriert sie damit aber auch jene Interaktionen in ihrer Analyse, die durch eben diesen Sieb fallen. Genau an dieser Stelle setzten meine Ambitionen an, sollen im Fokus meiner Arbeit doch widerständige Momente stehen, die sich innerhalb von algorithmischen Regimen artikulieren, die sich durch diese breite Perspektive jedoch nicht auf die Praktiken von wenigen Expert:innen beschränken dürfen. Dieses Problem stellte mich in den letzten Monaten im Rahmen meiner Dissertation vor große Herausforderungen. Über meinen Zugang, der eine Überwindung der hier vorgestellten Forschungszugänge durch eine methodologische Überarbeitung vorschlägt, werde ich im nächsten Blogbeitrag berichten.

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Algorithmen

Thomas Zenkl

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Thomas Zenkl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Graz und interessiert sich für die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Technologien. In seinem Promotionsprojekt beschäftigt er sich mit der Frage, wie Algorithmen und KI-Anwendungen soziale Beziehungen über die ihnen innewohnende "algorithmischen Macht" beeinflussen sowie warum und auf welche Weise sich die Nutzer:innen solcher Systeme abweichend von den eigentlichen Intentionen der Systeme verhalten. Im Gegensatz zu einer technodeterministischen Perspektive zielt dieser Ansatz darauf ab, die Transformation menschlicher Handlungsfähigkeit (und nicht ihre Unterdrückung) in den Fokus der Betrachtung zu stellen und somit die konfliktträchtige gesellschaftliche Einbettung "sozialisierter Maschinen" zu beleuchten.
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