
Förderjahr 2022 / Stipendien Call #17 / ProjektID: 6194 / Projekt: Algorithmen, AI und widerständige Praktiken
Was bedeutet es eigentlich, Widerstand zu leisten? In ihrer breit diskutierten und bereits "klassischen" Übersichtsarbeit zu diesem Thema identifizieren Hollander & Einwohner (2004) zwei Kernelemente: Widerstand ist ein "Akt" (eine Handlung, die über eine reine Einstellung hinausgeht) der aus einer oppositionellen Position heraus geschieht. Dissens herrscht in der Forschung jedoch darüber, ob Widerstände als solche "sichtbar" sein müssen (und wenn ja, von wem?) sowie ob diese aus der Intention heraus geschehen müssen, Widerstand zu leisten. Ebenso schwierig wie eine exakte Begriffsbestimmung gestaltet sich nun auch die Frage der Klassifizierung von Widerstandspraktiken: Widerstand zu leisten ist verwoben mit spezifischen historischen und sozialen Bedingungen. Widerstände können sich als globale Protestbewegungen ebenso manifestieren wie als stille Akte der Verweigerung. Das Konzept des Widerstandes bedarf daher einer stetigen theoretischen Anpassung und Neuverortung.
Hinsichtlich meiner Arbeit gewinnt eine weitere Dimension Relevanz: In Zeiten, in denen soziale Verhältnisse zunehmend durch interaktive Technologien vermittelt und anhand von Ihnen ausgehandelt und stabilisiert werden müssen jene Transformationen berücksichtigt werden, die sich auf Möglichkeiten und Praktiken des Widerstandes ergeben. Oder anders gesagt: Ist die fortschreitende Verbreitung algorithmischer Entscheidungssysteme nur eine neue Form der Mediation bestehender Machtverhältnisse oder Verwandelt sie die Ausübung von Macht (und damit auch den Widerstand gegen sie) in ihrem Innersten? Aus techniksoziologischer Perspektive lässt sich diese Frage klar mit einem sowohl-als-auch beantworten, sind technologische Infrastrukturen doch immer Ausdruck des Bestehenden, dass sie dabei jedoch gleichzeitig verändern. Diese zunehmende Komplexität drückt sich nun auch in jenen Praktiken aus, die sich oppositionell zur technologischen Steuerung des Sozialen positionieren. Wie können Widerstände gegen algorithmische Systeme dennoch versucht werden zu fassen?
Aufbauend auf "Widerstandstheorien" der vergangenen Jahre und der Komplexität des Phänomens Rechnung tragend bieten Baaz et al. (2023) eine Heuristik an, die anhand von drei sich überlappenden und gegenseitig beeinflussenden Kategorien versucht, Widerstände zu gliedern und Untersuchungen dadurch zu systematisieren. In ihrem "ABC des Widerstandes" finden sich daher:
- Avoidance resistance: Der individuelle oder kollektive Entzug gegenüber einer (versuchten) Machtausübung. Dieser Widerstand kann offen der verdeckt sein, kann sich gezielt auf die Vermeidung bestimmter Herrschaftsformen richten oder lediglich eine Reaktion auf als unerwünscht empfundene Veränderungen darstellen.
- Breaking resistance: Anstelle einer Vermeidung von Machtausübung versucht diese Form des Widerstandes eine Destruktion der für Herrschaft ausschlaggebenden Machtbeziehungen. Sie operiert durch eine temporäre oder potenzielle Infragestellung von Machtbeziehungen durch jene, die ihr unterworfen sind. Auch solche Widerstandspraktiken können individuell oder kollektiv auftreten, im Gegensatz zu "avoidance" bewegen sie sich jedoch stets in der Sphäre der Öffentlichkeit.
- Constructive resistance: Widerstand bedeutet nicht nur Proteste oder Ungehorsam gegen Institutionen, Praktiken oder Akteure, sondern manchmal auch den Aufbau neuer Institutionen, Identitäten, Diskurse, Gemeinschaften oder Praktiken. Dieser "konstruktive" Widerstand manifestiert sich demnach durch den Entwurf von Alternativen, die sich gegen bestehende Machtverhältnisse stellen.
Das ABC des algorithmischen Widerstandes
Als kurzes und anschauliches Anwendungsbeispiel möchte ich demonstrieren, wie sich die Ergebnisse einer von mir durchgeführten Studie durch dieses theoretische Gerüst begreifen lassen. Im Rahmen einer empirischen Untersuchung wurden Arbeitnehmer:innen in einer halbstaatlichen Agentur zu ihren Einschätzungen und Erwartungen hinsichtlich vergangener und zukünftiger digitaler Transformationen befragt. Zentral war dabei die Frage, wie sie denken, dass sich ihre Arbeitsumgebung durch algorithmische Technologien und den Einsatz von künstlicher Intelligenz verändern wird. Unabhängig von den tatsächlich zum Einsatz kommenden Technologien (etwa einer "richtigen" künstlichen Intelligenz) zeigte sich, dass bereits in den letzten Jahren verstärkt Unterstützung- und Entscheidungssysteme eingeführt wurden, die als "algorithmisches Management" (Kellog et al. 2020) beschrieben werden können. Diese Trends werden jedoch kritisch betrachtet, was sich im Umgang mit diesen Systemen zeigt:
- Arbeitnehmer:innen gaben an, Eingaben gezielt zu manipulieren um zu bestimmten Ergebnissen zu kommen oder Ergebnisse, mit denen sie nicht übereinstimmten, wissentlich zu ignorieren. Obwohl durch rigoroses Controlling versucht wird, solche Praktiken weitestgehend zu unterbinden, konnten jene als "avoidance" zu klassifizierenden Aktionen gezielt Handlungsspielräume und damit mehr Autonomie am Arbeitsplatz schaffen.
- War es nicht möglich, algorithmisch ausgeübte Macht zu vermeiden, so wurde in manchen Fällen versucht, Systeme und die von ihnen ausgeübten Ansprüche als ganzes zu zerstören (bzw. zu verhindern). Dies geschah entweder durch Interventionen bei Zweigstellen/Gebietsleitungen oder durch organisierte Kampagnen von Betriebsräten/Gewerkschaften. Dieser "breaking resistance" war zwar nicht in allen Fällen erfolgreich, fand als "‘contentious politics" (nach der Auffassung in Vinthagen 2015) jedoch Einzug in des kollektive wie auch individuelle Repertoire an Widerstandsformen.
- Gleichzeitig erschöpfte sich der Widerstand der Arbeitnehmer:innen nicht daran, sich algorithmischer Macht zu entziehen oder sie zu bekämpfen. Im Gegenteil wurden technologische Fortschritte in vielen Fällen nicht nur "umgedeutet" um sie als Alternativen zu bestehenden Verhältnissen zu positionieren, diese Umdeutungen (insbesondere von zukünftigen Technologien die auf künstlicher Intelligenz basieren) resultierten oft in einer vollständigen Umkehrung von Machtverhältnissen: In den Imaginationen von Zukünften der Arbeitnehmer:innen wurden diese Systeme als Möglichkeiten der Emanzipation aus bestehenden technologischen Verhältnissen angesehen. Durch den vermehrten Einsatz dieser Technologien solle also die bestehende von ihnen ausgeübte Macht überwunden werden. Diese Praktiken der widerständigen Antizipation habe ich unter dem Titel des "Zähmens" genauer in einem bald erscheinenden Artikel beschrieben (Zenkl 2025).
Wie diese kurze Reflektion zeigt birgt die systematische Erforschung von alltagsweltlichen Begriffen häufig Fallstricke, die sich in einer zuvor ungeahnten Komplexität offenbaren. Durch die Anwendung des vorgestellten Rahmens wurde versucht, die vielfältigen und komplexen Formen algorithmischer Widerstandspraktiken zumindest oberflächlich zu begreifen. Im Rahmen meiner Dissertation wird dieses Verständnis noch weiter präzisiert, wobei insbesondere durch das entwickelte Konzept des "Zähmens" versucht wird auf jene Ambivalenz hinzuweisen, die ein integraler Bestandteil vieler Widerstandspraktiken ist.
Literatur
Baaz, M., Lilja, M., Schulz, M., Vinthagen, S., 2023. The ABC of resistance: towards a new analytical framework. Journal of Political Power 16, 59–80. https://doi.org/10.1080/2158379X.2023.2168369
Hollander, J.A., Einwohner, R.L., 2004. Conceptualizing Resistance. Sociol Forum 19, 533–554. https://doi.org/10.1007/s11206-004-0694-5
Kellogg, K.C., Valentine, M.A., Christin, A., 2020. Algorithms at Work: The New Contested Terrain of Control. ANNALS 14, 366–410. https://doi.org/10.5465/annals.2018.0174
Vinthagen, S., 2015. A Theory of Nonviolent Action: How Civil Resistance Works. Zed Books. https://doi.org/10.5040/9781350251212
Zenkl, T., 2025 (forthcoming). The Taming of Sociodigital Anticipations: AI in the Digital Welfare State.
Thomas Zenkl
